17

 

„Sie riecht nicht gut.“ Damian rümpfte die Nase. Verachtung stand in seinen Augen, die denen Adrians so sehr ähnelten.

„Papa?“, fragte ich noch einmal. Vielleicht hatte die Kälte während der vorangegangenen Prozedur einen Teil meines Gehirns in Mitleidenschaft gezogen? Hoffentlich taute es baldigst wieder auf, weil ich ohne seine Dienste eindeutig aufgeschmissen war.

„Hält er dich für seinen Vater? Glaubt er, du wärst Saer?“

„Damian ist mein Sohn, nicht Saers“, antwortete Adrian rasch. Seine Hand ruhte auf der Schulter des Jungen, als er ihn nun auf die Tür zuschob. Er hielt mir seine andere Hand entgegen. „Komm, Hasi, wir müssen gehen. Zweifelsohne hat jeder Unsterbliche im Umkreis von fünf Meilen die Macht gespürt, als du den Fluch gelöst hast. Wir müssen verschwinden, ehe Saer und Dante uns finden.“

„Dein Sohn?“, wiederholte ich wie ein Papagei. Ich fühlte mich noch dümmer als sonst. Ich ignorierte seine Hand und starrte ihm tief in die Augen. Sie spiegelten Ungeduld und Sorge, und auch eine tief empfundene Dankbarkeit, die ich nur zu gerne weiter erkundet hätte, aber ich wusste, dass er recht hatte. Das Gefühl tiefen Glücks, das der Ring ausgestrahlt hatte, war etwas, von dem ich instinktiv wusste, dass es auch andere fühlen würden. „Aber er ist Belindas Sohn, und das bedeutet... „

„Wir werden das später besprechen.“ Er packte mich mit eisernem, wenn auch nicht schmerzhaftem Griff am Handgelenk und zog mich aus dem Raum, wobei er mit der anderen Hand Damian vor sich herschob.

„Du hast sie Hasi genannt“, sagte der Junge mit einem Blick zurück auf uns, während Adrian ihn und mich den Flur hinunterhetzte. „Sie ist doch wohl nicht etwa deine Freundin, oder?“

Das Entsetzen, das in diesem Wort mitschwang, gab mir zu verstehen, dass ich geringfügig weniger verabscheuungswürdig war als die Pest.

„Auch darüber werden wir uns später unterhalten“, stieß Adrian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er ignorierte die wenigen Menschen, die gerade aus dem Treppenhaus traten, und hielt Damian und mir die Tür auf.

„Sie stinkt“, sagte der Junge mit pikiertem Gesichtsausdruck.

„Man sollte doch meinen, dass jemand, der noch vor ein paar Minuten toter als mausetot gewesen ist, der Person, die ihn gerettet hat, mit ein wenig mehr Dankbarkeit begegnet“, gab ich schnippisch zurück.

Ich fragte mich, in was für einen Albtraum sich mein Leben bloß verwandelt hatte. Damian war Adrians Sohn? Ich sollte die Stiefmutter eines ungehobelten, unausstehlichen kleinen Jungen werden, der fand, dass ich stinke? Ich schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, auf diese Weise die Verwirrung zu vertreiben, die ich immer noch der Kälte zuschrieb. Es war der Stress, verflucht und dann von dem Fluch befreit zu werden, der Damian so mürrisch sein ließ. Ich war sicher, sobald er sich erst mal von dem Trauma erholt hatte, würde er ...

„Sie kommt aber doch nicht mit uns nach Hause, Papa, oder?“, fragte Damian über seine Schulter hinweg, während wir die Stufen hinaufstiegen. „Wenn die bei uns bleibt, wird mir schlecht.“

...dasselbe kleine Ungeheuer bleiben, das er offensichtlich war.

Als wir durch die Tür in den Keller stürmten, beschloss ich, ihm die Krallen zu zeigen.

„Du hast wohl nicht zufällig Das Omen gesehen, oder?“

„Schnell, zur Treppe“, befahl Adrian, der uns alle beide ignorierte, um uns weiter den Gang entlang zutreiben. Ich verkniff mir eine schroffe Erwiderung, als ich sein Gefühl des Unbehagens und der Unruhe spürte. Auch ich konnte fühlen, dass etwas in der Luft lag, etwas... war nicht in Ordnung.

Wir rasten die Treppe hinauf in die große Halle hinein, den überdachten Hof im Zentrum des Britischen Museums.

Direkt in die Hölle.

Menschen liefen wie verrückt schreiend durch die große Halle, ihr Kreischen hallte von der gewaltigen Glasdecke wider, die den Lärm zurückwarf, bis es schien, als ob wir in einem einzigen langen, endlosen Schrei gefangen säßen.

„Was zur Hölle -“ Mir blieben die Worte im Hals stecken, als ich einen Blick auf das erhaschte, wovor die Menschen flüchteten. „Grundgütiger! Sind das... das...“

„Mumien“, ergänzte Adrian mit einem müden Seufzer. „Das hatte ich schon befürchtet. Ich hatte gehofft, dass deine Macht sie nicht erreichen würde, da sie sich so viele Stockwerke unter uns befanden, aber offensichtlich bist du weitaus mächtiger, als wir beide geglaubt haben.“

„Mumien?“, sagte ich. Meine Stimme war um eine Oktave gestiegen.

Adrian brachte mich zum Schweigen und dirigierte Damian und mich zur Seite. „Hinter dieser Statue gibt es einen Ausgang. Schnell, bevor die -“

„Mumien!“, kreischte ich, als meinem langsam auftauenden Gehirn endlich aufging, was genau ich da vor mir sah.

Die schreienden Leute, die aus der großen Halle flüchteten, waren normale Menschen - lebende Menschen. Die Dinger, die nur wie Menschen aussahen, staksten offenbar blindlings durch die Halle und zogen, wie es sich gehörte, Stoffstreifen hinter ihren ausgemergelten braunen Körpern her, was seine durchaus dramatische Wirkung nicht verfehlte. „Das sind Mumien! Echte Mumien!“

„Nell! Nicht reden!“, sagte Adrian.

„Cool!“, sagte Damian und besah sie sich näher.

Der Lärmpegel in der Halle sank, nachdem die meisten Menschen geflohen waren. Nur ein paar Sicherheitsleute und Angestellte des Museums waren geblieben. Erstere bezogen hinter den Statuen Position, Letztere beobachteten eng aneinandergedrängt drei Mumien, die umherliefen wie Entenküken, die ihre Mutter verloren hatten.

„Ist einer von denen Imhotep? Wird er allen das Leben aussaugen? Kann ich dabei zugucken?“, fragte Damian eifrig.

„Du bist ein blutdurstiger kleiner Vampir“, sagte ich, ohne nachzudenken. Ich konnte die Augen immer noch nicht von dem erstaunlichen Schauspiel vor uns abwenden. In der Sekunde, in der diese Worte meine Lippen verlassen hatten, wurde mir klar, was für eine dämliche Äußerung das war. Damian zog spöttisch die Oberlippe hoch. Die Mumie, die uns am nächsten war, wandte mir den Kopf zu; eine Bewegung, die von einem grauenhaften Knacken begleitet wurde.

Ich zuckte zusammen und bereitete mich innerlich darauf vor, gleich zusehen zu müssen, wie ihr der Kopf abfiel.

„Nell, du musst ganz still sein“, sagte mir Adrian ins Ohr.

„Was?“, fragte ich verwirrt. Der Anblick von Damian, der tollkühn auf die knarzende Mumie zuging, lenkte mich ab. Ihr Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, als ob sie blind nach etwas suche. Aus ihrem mumifizierten Mund drang ein leiser, verzweifelter Schrei. Im Gegensatz zu den Mumien im Film wollten diese hier anscheinend niemanden umbringen. Eigentlich wirkten sie eher mitleiderregend als erschreckend. Eine der Mumien - an ihrem dunkelbraunen Kopf klebten leuchtend rote Haare - bewegte sich wie eine Krabbe über den Boden, ihr Körper in der Mitte abgeknickt und offensichtlich nicht imstande sich aufzurichten. „Damian, lass sie in Ruhe! Mumien sind sehr zerbrechlich. Wenn du eine anfasst, könnte sie kaputt-“

Adrian stöhnte, als meine Ermahnung durch die ganze Halle echote. Die Mumien wandten sich wie ein Mann (oder Frau; es war schwierig, das Geschlecht dieser verschrumpelten, verdorrten Körper zu erkennen) zu mir um; alle drei gaben eine Art Miauen von sich, als sie nun auf uns zukamen.

„Bei allen Heiligen, Frau, wann wirst du endlich einmal auf mich hören?“, knurrte Adrian. Er packte Damian beim Kragen, griff nach meinem Handgelenk und zerrte uns auf die Seitentür zu.

„Was? Was hab ich denn getan? Und warum verfolgen die uns?“, fragte ich, während er uns einen kurzen Gang hinunter auf einen Notausgang zuscheuchte. Als ich über die Schulter zurückblickte, konnte ich die Mumien hinter uns hertrampeln, taumeln und kriechen sehen.

„Du hast sie wiederauferweckt“, antwortete Adrian düster.

„Hab ich nicht!“

„Hast du doch. Normalerweise hättest du nicht die Kraft besessen, mehr als einen Fluch zur selben Zeit zu brechen, aber mit der Macht des Rings hast du tatsächlich überaus erfolgreich alles und jeden in diesem Museum von Flüchen befreit, die Mumien eingeschlossen.“

„Die Mumien waren verflucht?“ Kühle Abendluft schlug uns entgegen, als Adrian den Notausgang mit einem Tritt öffnete; gleichzeitig gingen eine Sirene und ein blinkendes Blaulicht los. Ich schaute zurück. Die Mumien verfolgten uns immer noch und zogen einen ganzen Schwanz von Museumsangestellten und Sicherheitspersonal hinter sich her. Die Leute von der Security hielten zwar gebührenden Abstand, hatten aber ihre Waffen gezogen und hielten Funksprechgeräte an ihre Münder, in die sie Befehle brüllten.

„Manche ja, aber nicht alle. Diese drei waren es offensichtlich. Bewegt euch schneller, die Polizei wird das Gebäude sicher in weniger als einer Minute umstellt haben.“

„Warum kann ich mir die Mumien nicht angucken?“, quengelte Damian, als wir durch die Tür hinausrannten. Es war mittlerweile stockdunkel und auf den Straßen rund um das Museum drängte sich der Berufsverkehr. Wir kamen zu einem kleinen Parkplatz, auf dem eine Reihe museumseigener Fahrzeuge stand, in der Mehrzahl kleine Pkws.

„Ich verstehe, dass ich die Flüche von den Mumien genommen habe, aber warum folgen sie uns?“, fragte ich Adrian, der auf den uns am nächsten stehenden Wagen zurannte, an der Tür rüttelte und laut und ausgiebig fluchte, als sich herausstellte, dass sie verriegelt war.

„Sie folgen dem Klang deiner Stimme“, brummte er. Dann trat er einen Schritt zurück und hob einen Fuß, um ihn in das Fenster des Autos zu rammen. Die Scheibe bekam Risse, zerbrach aber nicht. „Das ist ein Teil des Rituals, das du verwendet hast, um den Fluch zu brechen.“

Ich erinnerte mich an die Worte, die in dem Zauberbuch standen. Das Letzte, was ich gesagt hatte, hatte sich direkt an den Zweck des Fluchs gerichtet: Deine Macht ist zerschlagen. Dein Begehr ist vereitelt. Deine Finsternis ist offenbar. Alle, die durch dich gebunden, hört nun auf meine Stimme. „Na toll!“, seufzte ich, während Adrian dem Fenster einen weiteren Tritt versetzte. Ich zuckte zusammen, als sich Glasscherben über das ganze Wageninnere verteilten.

„Ich bin die einzige Frau in ganz England mit sprachgesteuerten Mumien.“

„Steig hinten ein“, befahl Adrian Damian und entriegelte die Tür. Ich lief auf die andere Seite zum Beifahrersitz und wartete, während Adrian sich in den Wagen beugte, um Glasscherben vom Sitz zu fegen.

„Ich will vorne sitzen“, jammerte Damian.

Ich grinste. „He, hat das Ganze auf Damian dieselbe Wirkung? Muss er jetzt auch meiner Stimme folgen? Muss er alles machen, was ich sage?“

„Wohl kaum!“, schnaubte Damian.

„Nein, er ist davon nicht betroffen. Er ist ein fühlendes Wesen. Die Mumien fühlen nichts mehr.“ Adrian fluchte, als sich der Notausgang des Museums erneut öffnete und drei mitgenommene Mumien in die Nachtluft getorkelt kamen. „Steigt sofort ein!“

Ihre blinden Augen waren auf mich gerichtet; aus ihren Mündern drangen leise Laute, halb Stöhnen, halb Flehen. Ich zögerte an der geöffneten Tür, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu entkommen und dem Bedürfnis, die hilflosen Mumien zu beschützen.

„Nell!“

Ich zeigte mit der Hand auf die Mumien.

„Sieh sie dir doch an, Adrian! Sie sind völlig hilflos und das ist allein meine Schuld. Was glaubst du denn, werden die Museumsleute mit ihnen machen? Sie werden sie quälen, um herauszufinden, was mit ihnen los ist! Ich muss sie wieder in ihren unbelebten Status zurückversetzen.“

„Dafür ist keine Zeit. Steig sofort ein.“

Ich sah mich auf dem Parkplatz um. Der erste Wachmann hatte den Notausgang erreicht und streckte zuerst seine Waffe und dann den Kopf um die Ecke, um zu uns herüberzuspähen. Jenseits der hohen Mauer, die das Areal des Museums umgab, heulten Polizeisirenen. Vor einer Schranke am Eingang zum Parkplatz stand ein Wächter und beobachtete mit offen stehendem Mund die Mumien, die langsam auf ihn zugewankt kamen.

Ich erblickte einen großen weißen Lieferwagen in der Nähe der Ausfahrt. Er war leer. Ich wirbelte herum, schlug die Wagentür zu und sprintete auf den Lieferwagen zu, während ich Adrian noch zurief: „Wir nehmen sie mit! Ich kann sie nicht hierlassen, wo sie gequält werden, nicht, wenn ich dafür verantwortlich bin, dass sie hier herumlaufen.“

Die Mumien wandten sich in meine Richtung, die Tonhöhe ihres unaufhörlichen Wimmerns stieg an und schien noch verzweifelter zu werden, als ich mich von ihnen entfernte. Ich erreichte den Lieferwagen und betete um ein Wunder.

Er war verschlossen.

„Verdammt!“, fluchte ich und zerrte das Zauberbuch aus meiner Tasche.

Adrian und Damian erreichten mich gerade, als ich den Entriegelungszauber gefunden und die Tür geöffnet hatte.

„Nell, was zum Teufel machst du da eigentlich?“, fragte Adrian. Er schob mich beiseite, während eine Kugel an uns vorbeisauste. „Warum versuchst du uns umzubringen, nur wegen ein paar Mumien?“

„Du kannst nicht umgebracht werden, weißt du noch? Und für die Mumien bin ich verantwortlich, und deshalb kann ich sie nicht zurücklassen.“ Ich sprach lauter, um den Lärm der Sirenen zu übertönen, der jetzt auf alarmierende Weise lauter wurde. Dazu kamen die Rufe der Museumswächter und gelegentlich die ein oder andere Kugel, die von in der Nähe stehenden Autos abprallte. „Mumien! Hört auf meine Stimme!“

Sie bewegten sich jetzt wesentlich schneller, und als ich es endlich geschafft hatte, die hintere Tür zu öffnen, kamen sie gerade um das Heck des Wagens getaumelt. „Rein mit euch!“, befahl ich. Ich sprang hinein, in der Hoffnung, dass sie mir folgen würden.

Adrian, schlau wie er war, wusste, wann er verloren hatte, und mit nur einem einzigen wütenden Blick auf mich warf er Damian in den Wagen und kletterte über den Jungen hinweg, um auf den Fahrersitz zu gelangen. Er hatte mehr Glück als ich: Die Schlüssel waren unter dem Sitz versteckt und er entdeckte sie in null Komma nichts.

Die Mumien mochten ja keine fühlenden Wesen sein, aber sie begriffen, was sie zu tun hatten. Die Gleichung war einfach genug: ich war im Wagen, ergo sie ebenfalls.

Unglücklicherweise versuchten sie sich alle auf meinen Sitz zu quetschen.

„Äääh!“, kreischte ich, als sich Rotschopf auf meinen Schoß warf. Eine zweite Mumie, die vollkommen in Stoffstreifen eingewickelt war, fiel auf meine Schulter, ihr Gesicht schob sich direkt vor meines, das grauenhafte Jammern ertönte von leblosen Lippen, und sie roch harzig und alt. Ich entzog mich ihrer ungewollten Umarmung und versuchte keine Notiz von den schwarzen, leeren Augenhöhlen zu nehmen.

Adrian gab Gas und schaute über seine Schulter zurück, während die letzte Mumie versuchte, sich auf den Rücksitz zu schwingen, wobei sie Mühe hatte, ihre verwelkten Beine hoch genug zu heben, um in den Wagen einzusteigen. Sie wirkte etwas nobler als die anderen, mit den Ornamenten eines längst verstorbenen Pharaos, die man auf ihre Hüllen gemalt hatte. Adrian sprang aus dem Wagen, packte eine Handvoll der Mullbinden, schleuderte die Mumie ins Wageninnere und warf die Tür hinter ihr zu.

„Bääh! Was soll das denn? Meint ihr vielleicht, wir spielen hier Reise nach Jerusalem mit nur einem Sitz? Runter von mir!“ Ich war voller Mumien. Sie bewegten sich schwach, als ich versuchte, sie von mir herunterzuschieben, aber die Fliehkräfte der Kurve, die der Wagen beim Anfahren beschrieb, warfen uns allesamt gegen die Seitenwand des Wagens - und mich ganz zuunterst.

Aufgrund meiner Lage (begraben von Mumien) bekam ich nicht mit, wie Adrian das Kunststück gelang, uns heil vom Parkplatz des Museums herunterzubringen, aber nach der Anzahl seiner Flüche und dem Lärm der Schüsse zu urteilen, war es wohl mehr als nur ein wenig haarsträubend.

„Polizei, Papa!“, bemerkte Damian oberschlau, während ich einen welken Ellbogen von meinem Mund entfernte und eine Mumie sanfte beiseiteschob, damit ich wenigstens zwischen den ineinander verkeilten Leibern hindurch hinausspähen konnte.

In der Tat war zwischenzeitlich die Polizei angekommen, mehrere Wagen hielten soeben vor dem Parkplatz.

„Runter mit euch!“, befahl Adrian und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Damian duckte sich, als sich der Wagen ruckartig drehte, ins Schleudern geriet und das Heck des schweren Lieferwagens schließlich in ein kleines Polizeiauto krachte, das die Straße vor dem Parkplatz abriegelte. Die Mumien und ich flogen in trauter Einigkeit auf den Boden des Wagens. Immerhin wurde nun aus ihren Schreien ein zufriedenes Gurren, während drei Paar Hände damit beschäftigt waren, mich zu tätscheln.

„Ich bin froh, dass ihr Jungs so glücklich darüber seid, mich gefunden zu haben, ganz ehrlich, aber das ist mir doch ein bisschen zu schräg“, teilte ich ihnen mit, während ich mich aus dem Mumienhaufen hinauskämpfte und mich hinter Damians Sitz auf die Knie aufrichtete. Adrian hatte den Aufprall des Wagens dazu benutzt, eines der Hindernisse aus dem Weg zu räumen, den Rest erledigte die Wucht des Wagens, als er ihn mit hoher Geschwindigkeit wendete. Er bremste mit voller Kraft, riss das Lenkrad herum und gab dann wieder Vollgas, wodurch sich der Wagen um sich selbst drehte und die Blockade durchbrach. Mit quietschenden Reifen platzten wir in den normalen Straßenverkehr; die Mumien wurden durch die Beschleunigung nach hinten geworfen. Ich klammerte mich an die Lehne von Damians Sitz und mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als sich ein schwarzer Schatten vom Rand der Straße gegen die Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite warf.

Adrians Gesicht klebte dicht vor dem Fenster.

„Das ist Onkel Saer!“, presste Damian hervor, wobei er ins Deutsche verfiel. Er presste sich in seinen Sitz, eine Hand schützend erhoben, als ob er sich gegen einen Schlag verteidigen wollte.

Adrian stieß einen Fluch aus und riss das Lenkrad herum, um Saer vom Wagen zu entfernen. Wir schleuderten bei Rot über eine Kreuzung und entgingen nur knapp einem riesigen Lkw. Der Lärm von aufeinander prallendem Metall und zerbrechendem Glas, der uns auf unserem Weg begleitete, ließ uns wissen, dass andere nicht so viel Glück hatten. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass niemand verletzt sein möge, während ich unter den Sitz kroch, bis sich meine Hand um einen Gegenstand in einer mir vertrauten Form legte. Ich öffnete das in Leder gebundene Buch und hielt im trüben Licht der Straßenlaternen angestrengt Ausschau nach dem Zauber, der einen Vertreibungsfluch aufheben konnte. Ich fand die passenden Worte und packte Adrians Schulter, um die Dunkelheit in ihm zu nutzen.

„Adulterinus succenturiol“, brüllte ich und legte alle Entschlossenheit, über die ich verfügte, in meinen Wunsch, Saer möge an einen anderen Ort transportiert werden. Ich hatte vergessen, dass ich immer noch den Ring trug. Adrian hatte die Wahrheit gesagt, was dessen Kräfte betraf. Vorhin, als ich Damians Fluch aufgehoben hatte, hatte er mich beschützt. Jetzt fügte er einem einfachen Vertreibungsfluch das Äquivalent eines Quäntchens Atombombe hinzu und schon wurde Saer, der eben noch seine Faust durch die Windschutzscheibe gerammt und nach dem kreischenden Damian gegriffen hatte, beiseite geschleudert, sodass er gegen die Mauer des Britischen Museums klatschte.

Adrian warf einen Blick zurück in den Laderaum des Wagens, wo ich auf einem Haufen Mumien kniete und mit irrem Blick das Zauberbuch umklammerte. „Erinnere mich bitte daran, dass ich dich niemals wütend mache, solange du den Ring trägst“, sagte er.

Ich wollte ihm zulächeln, doch im selben Moment entdeckte ich durch die gesprungene Fensterscheibe eine weitere bekannte Gestalt, die vor uns auf die Straße trat.

„Adrian!“, kreischte ich mit ausgestrecktem Arm.

Seine Augen verengten sich, als er Christian erblickte, der mitten auf der Straße stand und eine Hand hochhielt, um uns anzuhalten. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, als Adrian das Gaspedal durchtrat - offensichtlich in der Absicht, den anderen Vampir zu überrollen.

„Nein, das darfst du nicht!“, schrie ich und rüttelte verzweifelt an seiner Schulter. „Bring ihn nicht um!“

„Warum nicht?“, stieß Adrian knurrend hervor. Seine Finger umklammerten das Lenkrad, während der Lieferwagen genau auf Christian zuschoss. Der dumme Kerl stand stockstill und lud Adrian geradezu dazu ein, ihn umzunieten, aber das konnte ich nicht zulassen. Nicht dass ich irgendwelche warmen Gefühle für ihn hegte - schließlich hatte er alles dafür getan, um Adrian zu töten -, aber nun, wo wir so kurz davorstanden, Adrians Seele zurückzugewinnen, wollte ich nicht, dass er alles mit einem vorschnellen Racheakt aufs Spiel setzte.

„Weil du deine Seele noch nicht zurückhast!“

„Ich hab dir doch gesagt, dass das daran liegt, dass Asmodeus' Fluch mich nach wie vor bindet. Wenn der von mir genommen wird, dann erlange ich meine Seele zurück.“

„Aber nicht, wenn du durch die Gegend fährst und...“ Ich warf einen Blick zu Damian hinüber, der tief in seinen Sitz geduckt dasaß und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen beobachtete, wie Christian immer näher rückte. „... wenn du jemanden ohne triftigen Grund tötest. Du kannst ihn nicht einfach überfahren, Adrian. Bitte, tu das nicht. Riskier nicht alles nur für einen kurzen Moment der Befriedigung.“

„Papa?“, fragte Damian. Sein Gesicht war starr vor Angst, als der Wagen weiter auf Christian zuhielt.

Der Vampir stand einfach da, als ob er Adrian die Wahl lassen wollte, ob er ihn umbrachte oder nicht.

„Verdammt noch mal!“, fluchte Adrian auf Deutsch und riss das Lenkrad in allerletzter Sekunde herum. Die Reifen des Wagens, an eine solche Fahrweise nicht gewohnt, schlitterten quietschend über den Asphalt, als wir eine 180-Grad-Drehung vollführten. Im Wagen erhob sich lautes Gebrüll: Damian und ich kreischten lauthals, und die durchdringenden Schreie der Mumien verstummten erst, als unser Wagen zum Halten kam, nachdem er unter ohrenbetäubendem Getöse und Kreischen von Metall, das über Metall reibt, drei geparkte Autos gestreift hatte. Dann hustete und spuckte der Motor noch ein paar Mal, um schließlich in glorreicher Stille sein Leben auszuhauchen.

Eine Stille, die recht schnell durch das Geräusch sich uns nähernder Sirenen ersetzt wurde.

„Los, ihr müsst mit mir kommen!“

Ich schob einen mumifizierten Körper weg, der quer über meinem Kopf lag, und blickte ungläubig auf den Mann, der die Tür auf Damians Seite aufgerissen hatte und den Jungen aus dem Wrack zog.

„Was -“, begann ich zu fragen, als sich Adrian über den Beifahrersitz hinweg - die Fahrerseite des Wagens war vollkommen eingebeult - mit einem dermaßen rachehungrigen Knurren auf Christian stürzte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. „Adrian, wage es ja nicht, Christian etwas anzutun! Ich verbiete es! Verdammt, Rotschopf, hör sofort damit auf, meine Beine zu umklammern. Die brauch ich jetzt. Lasst mich los, und zwar alle!“

Die Mumien protestierten mit traurigem, leisem Wimmern dagegen, dass ich über sie hinweg zur Beifahrertür kletterte. Ich ignorierte sie und fiel mehr aus dem Wagen, als dass ich ausstieg, um die paar Meter dorthin zu taumeln, wo Adrian Christians Hals umklammert hielt.

„Lass ihn los, Adrian!“ Ich beobachtete die blinkenden blauen Lichter, die immer näher kamen. „Wir können nicht gegen jeden kämpfen.“

„Das müsst ihr auch nicht.“ Christians Stimme klang ein klitzekleines bisschen heiser. Das musste ich dem Vampir lassen - kaum ein anderer würde wohl einen Ton herausbringen, während er von Adrian gewürgt wurde. „Ich bin nicht euer Feind. Ich bin hier, um euch zu helfen.“

„Ich glaube dir nicht“, zischte Adrian. „Du lügst.“

Ich schüttelte den Kopf und zupfte ihn am Arm. Damian hatte sich schutzsuchend hinter seinem Vater verkrochen und beobachtete uns alle mit glänzenden, interessierten Augen. Er schien vor Christian nicht so große Angst zu haben wie vor Saer. „Es ist ganz egal, ob er lügt oder nicht“, sagte ich. „Wir müssen machen, dass wir hier wegkommen. Das Chaos, das du an der letzten Kreuzung verursacht hast, wird die Polizei nicht mehr lange aufhalten.“

Christian hielt die Hand hoch. „Ich weiß jetzt, dass Saer dafür verantwortlich ist, dass dein Sohn von Asmodeus gefangen gehalten wurde, und dass du deshalb den Ring an dich bringen wolltest. Ich biete dir meinen Schutz im Kampf gegen deinen Bruder an.“

Die Mumien hatten sich aus dem Wagen befreit und stießen nun frohe, kleine Schreie aus, während sie auf uns zugeeilt kamen. Ein vorbeifahrender Wagen erfasste das seltsame Trio mit seinen Scheinwerfern, woraufhin der entsetzte Fahrer voll auf die Bremse trat, auf der Stelle den Rückwärtsgang einlegte und die Straße wieder zurückschleuderte, bis er in einen ihm entgegenkommenden Lieferwagen krachte.

„Wieso solltest du uns jetzt deine Hilfe anbieten, wo du in der Vergangenheit so viele Male versucht hast, mich zu töten?“ Adrians Gesicht war starr vor Wut.

„Es war deine Auserwählte, die mich die Wahrheit erkennen ließ.“

„Sie ist deine Auserwählte? Oh nein, jetzt werden wir sie ja nie mehr los!“, jammerte Damian.

Ich zerrte an Adrians Arm, ignorierte sein warnendes Knurren und schob mich schließlich zwischen die beiden Männer, bis ich endlich Adrians Aufmerksamkeit erregt hatte. „Sieh mal, es ist doch ganz egal, warum er seine Meinung geändert hat, die Hauptsache ist doch, dass er sie geändert hat. Also sollten wir das ausnutzen, weil die Jungs da hinten“, ich wies mit der Hand auf eine Phalanx von Polizeiwagen, die gerade damit beschäftigt war, die Massenkarambolage zu umfahren, die die Kreuzung blockierte, „vermutlich bald auf die schlaue Idee kommen werden, einfach einmal um den Block zu fahren! Wir müssen auf der Stelle von hier weg oder wir werden den Rest unseres unendlich langen Lebens wegen Diebstahl von Antiquitäten hinter Gittern verbringen.“

„Es gibt noch eine Bedrohung, die weitaus größer ist als die Polizei“, fügte Christian hinzu. Seine schwarzen Augen blickten in Adrians blaue. „Dein Bruder hat eine Armee aufgestellt. Außerdem hat sich Sebastian ihm angeschlossen. Gemeinsam werden sie alles tun, um dich, deine Auserwählte und deinen Sohn zu töten.“

Adrian zögerte. Ich legte meine Hand unter sein Kinn und drehte seinen Kopf, sodass er mich ansehen musste. Ich war zwischen den beiden Männern eingekeilt. Adrian hielt Christian nach wie vor in seinem tödlichen Griff.

„Wir haben keine Wahl, Geliebter. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen ihm wohl oder übel vertrauen.“

„Du verlangst von mir, dem Mann zu vertrauen, der noch vor ein paar Tagen vorhatte, mich hinzurichten? Dem Mann, der ohne Skrupel, ohne das geringste Bedauern dabei zugesehen hätte, wie sie dich töten? Wieso verlangst du das von mir?“

„Ich gebe dir mein Wort, dass ich niemandem von euch etwas zuleide tun werde“, sagte Christian leise.

Ich ignorierte ihn und beugte mich vor, um Adrian einen Kuss auf den Mund zu geben. Damian tat, als ob er sich erbrechen müsste. „Warum ich ihm traue? Ganz einfach, mein Lämmchen. Er ist der Einzige, der so viel gesunden Menschenverstand bewiesen hat, mir zu glauben.“

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